18.11.2022
Im Jahr 2020 feiert eine „Göttin“ ihren 65. Geburtstag. Das französische Kultauto Citroën DS landete Mitte der 1950er-Jahre mit ungewöhnlichem Design und innovativer Technik wie ein UFO von einem anderen Stern in der Automobilwelt. Ihr Komfort ist auch nach modernen Maßstäben immer noch einzigartig, man fährt wie Gott in Frankreich.
Eine Göttin vom anderen Stern
Am 5. Oktober 1955 stellte Citroën auf dem Pariser Autosalon ein wirklich aufsehenerregendes Auto vor: die Citroën DS. Das Interesse des Publikums war so groß, dass wegen des großen Andrangs zeitweise die Pforten geschlossen werden mussten. Der Autobauer aus Rueil-Malmaison präsentierte nicht nur eine Nachfolgerin für den seit mittlerweile 23 Jahren erhältlichen Traction Avant, sondern schuf mit der „Déesse“ ein wahrhaft göttliches Auto. Es musste von einem anderen Stern, zumindest aber aus der Zukunft kommen. Die Formensprache unterschied sich so deutlich vom herkömmlichen Designs, dass andere Erklärungen gar nicht möglich schienen. Bei der Konkurrenz war man gerade erst dabei, die barocken Vorkriegsformen mit geschwungenen Kotflügeln zu überwinden und sich auf die Pontonform einzulassen. Citroën war der Autowelt mit der DS aber nicht nur optisch, sondern auch technisch um Jahre voraus.
Der DS oder die DS?
In Deutschland sind Autos traditionell männlich. Daher ist „der DS“ hierzulande weit verbreitet. Aber in Frankreich ist „la voiture“ weiblich und eine Göttin wie die „Déesse“ natürlich erst recht.
In jeder Hinsicht einzigartig
Glatte Flächen ziehen sich in einem Bogen über das ganze Auto. Alles wirkt wie aus einem Guss. Das Wortspiel DS – Déesse drängt sich bei ihrem Anblick geradezu auf, denn der Entwurf von Flaminio Bertoni ist eher ein Kunstwerk als ein Auto. Und dieses Kunstwerk war heiß begehrt. Schon am ersten Tag wurden 12.000, bis Messeende sogar 80.000 Bestellungen aufgenommen. Solche Verkaufszahlen weist so manches Auto nach Jahren noch nicht auf.
Tatsächlich war es ein langer Weg bis zur DS. Schon 1938 begann man mit der Planung, doch der Zweite Weltkrieg und die Entwicklung des Citroën 2CV bremsten das Auto für längere Zeit ein. Zudem legte Citroën-Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger Wert auf konventionelle, einfach umzusetzende Lösungen, die für eine Göttin keinen Platz ließen. Erst als er 1950 bei einem Autounfall starb, erhielt Chefkonstrukteur André Lefèbvre freie Hand.
Lefèbvre schöpfte seinen Spielraum aus. Aluminium- und Fiberglasbauteile machen das mit 4,838 m lange und 1,79 m breite, für damalige Verhältnisse richtig große Auto leicht. Jedes Karosserieteil ist an nur wenigen Befestigungspunkten mit dem Chassis verbunden. Alles kann einfach lackiert und bei Unfallschäden preiswert repariert werden. Die flache Bauform mit der langen Motorhaube sorgt für eine gute Aerodynamik (cw-Wert: 0,38) und in Verbindung mit dem geringen Gewicht für einen moderaten Verbrauch.
Hydropneumatik
Die bedeutendste Neuerung ist ein zentrales hydropneumatisches System. Es steuert die Servolenkung, das halbautomatische Getriebe, die Zweikreisbremsanlage mit Scheibenbremsen an der Vorderachse und vor allem die Federung. Letztere basiert auf Kugeln, in denen sich Gas und Hydraulikflüssigkeit ausbalancieren. Als automatische Niveauregulierung hält sie die Bodenfreiheit konstant. Dadurch fährt das Auto nicht, es schwebt. Einen vergleichbaren Fahrkomfort konnte kein anderer Hersteller bieten. Mercedes-Benz und Rolls-Royce erwarben Lizenzen, um diese Technik nutzen zu können. Auch der lange Radstand von 3,125 m, länger als bei der Normalversion einer aktuellen Mercedes-S-Klasse, trägt wesentlich zum Fahrkomfort bei.
Einen einzigen Schönheitsfleck hat die Göttin dann doch. Der aus dem Vorgänger übernommene Reihenvierzylinder ist eher ein rauer Bursche. Die flache Motorhaube verhinderte den Einbau von Sechszylindermotoren und ein Boxermotor konnte nicht in gewünschter Qualität realisiert werden. So holt der Klang des Motors den DS-Piloten ein bisschen zurück in die 1950er-Jahre, aus denen ihn Design und Technik zuvor erfolgreich entführt hatten.
Erfolg auf ganzer Linie
Schon die Vorbestellungen auf dem Pariser Autosalon ließen erahnen, dass die DS nach der „Ente“ der nächste große Wurf bei Citroën werden würde. Geschicktes Marketing, beispielsweise Werbeaufnahmen mit Filmstar Gina Lollobrigida, zeigte verkaufstechnisch Wirkung. Über einige Kinderkrankheiten konnte man hinwegsehen. Dazu gehörten der Aluminiumheckdeckel, der nicht stabil genug war und bereits nach einigen Monaten auf Kulanz gegen ein Stahlteil ersetzt wurde, oder die kratzempfindliche Plexiglasscheibe, die Anfang der 1960er-Jahre durch Echtglas ersetzt wurde. Dass mit der Technik nicht vertraute Werkstätten hierzulande die Hydropneumatik als anfällig und kaum zu reparieren einstuften, minderte den Erfolg der DS nicht. Tatsächlich halten die Kugeldämpfer genauso lange wie herkömmliche Stoßdämpfer und sind ebenso leicht auszutauschen.
Staatskarosse und Heldin
Frankreichs Präsident Charles de Gaulle nutzte das 6,30 m lange Sondermodell DS Présidentielle als Staatskarosse. Am 22. August 1962 rettete sie ihm das Leben. Sie konnte nach einem Attentatsversuch dank Hydropneumatik mit einem zerschossenen Reifen weiterfahren.
Der ersten DS folgte eine ganze Götterfamilie. 1957 kam die Basisversion ID ohne Servolenkung und Halbautomatik, ein Jahr später die Kombiversion Break. Interessante Detaillösungen wie eine waagerecht geteilte Heckklappe, deren Unterteil als Ladeflächenverlängerung genutzt werden konnte, versenkbare Sitze im Kofferraum und ein serienmäßiger Gepäckträger machen auch die Kombivariante zu etwas Besonderem. Mit 4,99 m war sie bei gleicher Breite 15 cm länger als die Limousine und wurde auch als Krankenwagen, als Skitransporter bei Rossignol und wegen der guten Federung sogar als Kamerawagen eingesetzt.
Unbestrittenes Oberhaupt der Götterfamilie ist zweifellos das seit 1960 erhältliche, von Henri Chapron gestaltete Cabrio – ein absolutes Luxusobjekt, das nur 1.325-mal gebaut wurde.
Jetzt kann sie auch noch um die Ecke schauen
Im Jahr 1967 glättete Citroën die Front und verbaute unter einem Glas vereinte Doppelscheinwerfer, die Bertoni kurz vor seinem Tod entworfen hatte. Die inneren Leuchten sind an die Lenkung gekoppelt und leuchten die Kurven aus. Die Göttin schaut tatsächlich um die Ecke oder nüchtern ausgedrückt: Sie hat das erste adaptive Kurvenlicht der Automobilgeschichte und untermauerte damit in den 1960er-Jahren Citroëns Ruf als innovativer Autobauer mit Sinn für ausgefallene Details. Zusätzlich wird über Bowdenzüge die Leuchtweite bei Nickbewegungen dynamisch reguliert. In den 1970er-Jahren folgten eine Bosch D-Jetronic-Benzineinspritzung und ein Automatikgetriebe. 1975 liefen die letzten DS vom Band. Fast 1,5 Millionen Exemplare der Legende des französischen Automobilbaus sind in zwanzig Jahren entstanden.
Die Popularität der DS war und ist so groß, dass sie nicht nur in französischen Filmen der 1950er- und 1960er-Jahre, sondern bis heute auf der Leinwand vertreten ist. Auch in internationalen Produktionen, beispielsweise „French Connection“ oder „Dame, König, As, Spion“ und US-Serien wie „Crossing Jordan“ oder „The Mentalist“ zeigt der Oldtimer seine schauspielerische Leistung.
Stichwort Leistung: Wen interessieren bei diesem Auto schon harte Fakten? Eine DS schwebt wie eine Sänfte und lädt eher zum Bummeln als zum Rasen ein. Wer es trotzdem wissen will: Die Zahl hinter dem DS gibt den Hubraum an. Die DS 19 von 1955 hat also einen 1,9-Liter-Vierzylindermotor mit 75 PS und kommt damit auf für damalige Limousinen respektable 140 km/h. Spätere Motorisierungen reichen bis 2,3 Liter und kommen mit Einspritzung, erkennbar an dem Zusatz „ie“, auf bis zu 126 PS (DS 23 ie) und 185 km/h.
Als Oldtimer wird die Citroën DS heute teuer gehandelt. Als „Projekt“ kann man um die 5.000,- € fündig werden. In wirklich gutem Zustand sind für die Limousine knapp 20.000,- € realistisch. Wer einen Break oder gar ein Cabrio möchte, muss wesentlich tiefer in die Tasche greifen. Der Kombi wurde nur etwa 80.000-mal gebaut und oft als Handwerkerauto verschlissen. Die wenigen gut erhaltenen Exemplare kosten gerne um die 30.000,- €. Vorsicht bei Cabrios! Alle unter 200.000,- € sind vermutlich später umgebaut worden.